Dekan Dr. Michael Glöckner: „Meine Hoffnung ist immer stärker als die Sorgen.“
Am 1. Mai 2019 trat Dr. Michael Glöckner (44) seinen Dienst als einer der beiden evangelischen Stadtdekane in Kassel an. Wenige Monate zuvor hatte der Rat der Landeskirche den gebürtigen Meininger in die Nachfolge von Dekan Jürgen Renner berufen. Seit dem Sommer des vergangenen Jahres lebt Glöckner mit seiner Frau und den vier Kindern in Kassel. In einem Gespräch mit Heike Schaaf, der Öffentlichkeitsreferentin des Stadtkirchenkreises Kassel erläutert er, wie sein erstes Jahr in Kassel erlebt hat und und wofür er eintritt.
Schaaf: Herr Dr. Glöckner, vor einem Jahr sind Sie nach Kassel gekommen. Können Sie sich noch an Ihren ersten offiziellen Termin in Kassel erinnern?
Glöckner: Und ob ich das kann! Das war am 2. Mai um 9 Uhr eine Sitzung zur Vorbereitung eines Dankeschön-Fests für haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende. Dieses wiederum war dann im September des vergangenen Jahres. Fast 400 Menschen, die im Stadtkirchenkreis und in den Kirchengemeinden Verantwortung übernehmen, hatten sich angemeldet. Ein sehr schöner, bunter Abend auf dem Lutherplatz. Ich denke gerne daran zurück.
Schaaf: Und überhaupt, wie waren Ihre ersten Eindrücke von der Stadt an der Fulda?
Glöckner: Vor meiner Berufung war mir wie vielen Pfarrerinnen und Pfarrern Kassel vor allem über das Landeskirchenamt bekannt. Und die Holländische Straße, wenn man vom Süden herkommend zu einer Fortbildung nach Hofgeismar unterwegs ist. Natürlich hatte ich einmal den Bergpark oder die Martinskirche besucht, immer auch die Documenta. Dass diese Stadt einmal Lebensmittelpunkt für mich und meine Familie sein würde, hätte ich zuvor nicht in Betracht gezogen. Mit der Berufung hat sich das schlagartig geändert. Ich habe mir viel Zeit genommen, die Stadt Kassel mit ihren unterschiedlichen Orten kennenzulernen. Zu Fuß, mit dem Rad oder dem Auto war ich unterwegs und habe Schönes und weniger Schönes gesehen.
Schaaf: Reden wir über das Schöne. Gibt es schon einen Lieblingsort?
Glöckner: Ich stehe gerne mit dem Fernglas beim Herkules und schaue auf die weite Stadt. Daneben gehe ich mit den Kindern oft durch die Karlsaue. Und den Radweg an der Fulda Richtung Hann. Münden habe ich echt lieben gelernt.
Schaaf: Und die Menschen?
Glöckner: Ganz am Anfang hat mir jemand gesagt: die Nordhessen sind etwas unnahbar und ein bisschen verschlossen, man kommt nicht so leicht an sie heran.
Schaaf: Hat sich das bestätigt?
Glöckner: Das kann ich nicht sagen. Manche sind vielleicht so. Viel wichtiger aber ist: Mir ist hier viel Freundlichkeit begegnet, und das von Anfang an auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Als in den ersten Tagen ein Besucher mit einer Ahlen Wurst in meinem Büro stand, war das Eis schnell gebrochen. Ich erlebe viel Freundlichkeit, wenn ich in den Gemeinden unterwegs bin oder in politischen Zusammenhängen, auch bei Vereinen und Verbänden sowie im interreligiösen Gespräch. Eine große Offenheit ist spürbar. Das nehme ich dankbar zur Kenntnis.
Schaaf: Sie waren viele Jahre Pfarrer auf einem Dorf. Welche Unterschiede fallen Ihnen besonders auf?
Glöckner: Das ist schon ein gewaltiger Unterschied! Fambach ist ein kleiner Ort, idyllisch im Werratal unweit von Schmalkalden gelegen. Etwas mehr als 2.000 Menschen leben dort. Man kennt einander. Jeden Tag begegnet man denen, die man gerne sieht. Und den anderen natürlich auch. Den interessierten Nachbarn entgeht nichts. Insbesondere der Pfarrer und seine Familie genießen eine besondere Aufmerksamkeit – mit allen Vorzügen, die das hat, aber natürlich auch mit den dazugehörenden Schwierigkeiten. In Kassel leben ungefähr einhundertmal so viele Menschen wie in Fambach. Das muss man sich erst einmal klarmachen. Der Radius meiner Verantwortung hat sich also eminent ausgeweitet. Und mit dem Radius gleichermaßen die Vielfalt und die zu bewältigenden Herausforderungen.
Schaaf: Was heißt das?
Glöckner: Ich möchte das gerne an der Rolle einer Pfarrerin bzw. eines Pfarrers verdeutlichen. In Fambach galt ohne Wenn und Aber: nach dem Bürgermeister ist der Pfarrer versus die Pfarrerin die zweitwichtigste Person vor Ort. Das haben im Übrigen auch diejenigen anerkannt, die kein Kirchenmitglied gewesen sind. Man musste nichts Besonderes tun, genoss aber ein unheimliches Vorschussvertrauen. In der Großstadt hingegen muss man sich dieses Vertrauen erst einmal mühsam erarbeiten. Im Konzert der verschiedenen Player, die sich mit ganz unterschiedlichen Perspektiven, Interessen und Kompetenzen in die Stadtgesellschaft einbringen, kann es für den Einzelnen schon sehr herausfordernd sein, Gehör zu finden. Ich nehme das wahr und habe großen Respekt vor dem Ideenreichtum, mit dem sich viele Pfarrerinnen und Pfarrer des Stadtkirchenkreises dieser Herausforderung stellen. In Fambach – und jetzt karikiere ich ein wenig – reichte ein Gespräch beim Bäcker, eine Information im Schaukasten sowie auf der Homepage der Kirchengemeinde, und die Kirche war voll.
Schaaf: Über viele Jahre hinweg haben Sie als stellvertretender Dekan Leitungsverantwortung im Kirchenkreis Schmalkalden wahrgenommen. Liegen nicht auch hier Welten dazwischen?
Glöckner: Das ist tatsächlich so. Mir wird das vor allem dann bewusst, wenn ich die Aufgabenfelder vergleiche. Der Kirchenkreis Schmalkalden ist auf eine ganz andere Weise geschichtsträchtig als die Stadt Kassel. In der Reformationszeit kamen dort die protestantischen Fürsten und reichsfreien Städte zusammen und gründeten vor fast 500 Jahren den Schmalkaldischen Bund, um sich gegen die Religionspolitik von Kaiser Karl V. zu verteidigen. Die Schmalkaldischen Artikel, eine der wichtigsten lutherischen Bekenntnisschriften, sind in diesem Kontext entstanden. Menschen aus der ganzen Welt kommen bis heute an diesen Ort und betrachten mit leuchtenden Augen die Steine, auf denen Reformationsgeschichte geschrieben worden ist. Eine wichtige Aufgabe der Kirche dort ist die Vergegenwärtigung der Reformationsgeschichte für den Glauben der Menschen in unserem Zeitalter.
Schaaf: Und Kassel?
Glöckner: Kassel hingegen ist allein aufgrund seiner Größe deutlich vielfältiger. Zur Geschichte Kassels gehören unter anderem die der Landgrafschaft Hessen-Kassel und des Kurfürstentums Hessen mit den entsprechenden Personen, aber auch Figuren wie Arnold Bode und die Documenta. Sie sehen schon, hier wird es weniger monolithisch. Man müsste jetzt noch viel mehr sagen, um dem gerecht zu werden. Zu Kassel gehören aber auch die schrecklichen Morde an Halit Yozgat und Dr. Walter Lübcke.
Schaaf: Der Regierungspräsident wurde ermordet, da waren Sie gerade einen Monat im Amt. Wie haben Sie diese Ereignisse in der Stadt erlebt?
Glöckner: Das war ein wirklich riesiger Schreck, nicht nur für unsere Stadt, sondern für unser ganzes Land. Ich bin bis heute wütend und fassungslos. Dieser Mord steht aus meiner Sicht in einer Linie mit den Morden der RAF oder denen des NSU. Leider habe ich Dr. Walter Lübcke nicht mehr persönlich kennengelernt. Nach allem, was ich über seine Persönlichkeit gehört habe, und angesichts dieser schrecklichen Geschichte schmerzt es mich im Nachhinein wirklich sehr, dass ich einen Antrittsbesuch dort nicht in den ersten Wochen meines Amtes wahrgenommen habe. Infolge der Ermordung des Regierungspräsidenten habe ich eine unheimlich starke, im Widerstand gegen dieses Verbrechen vereinte Stadt wahrgenommen. Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Verbände standen zusammen. Und das hat mich wirklich beeindruckt: eine Stadt zeigt Flagge gegen Extremisten. Das macht mir Mut. Und ich sehe hier auch einen wichtigen Ort für die Kirchen.
Schaaf: Welche Aufgaben waren in Ihrem ersten Jahr als Dekan prägend für Sie?
Glöckner: Von Anfang an lag mir daran, die Pfarrerinnen und Pfarrer sowie die Kirchengemeinden möglichst schnell kennenzulernen. Ich wollte wissen, was die Menschen umtreibt, wollte hören, wie der Glaube das Leben der Menschen prägt und mit welchen Ideen die Gemeinden das Evangelium in die Stadt tragen. Es gab nur ganz wenige Sonntage, an denen ich nicht mit einem Gottesdienst in einer Kirche Kassels unterwegs war. Überhaupt bedeutet es mir unheimlich viel, Gottesdienste zu feiern. Daneben ging es mir darum, mich sehr zügig in die Stadtgesellschaft einzubinden. Für mich ist es wichtig, dass die Kirche sich nicht in ihre Mauern zurückzieht und eine Art religiöses Eigenleben pflegt, sondern ein öffentlicher Faktor ist, der das politische Leben wohlwollend, manchmal auch konstruktiv-kritisch begleitet, in jedem Fall sich in der Stadt zu Wort meldet.
Schaaf: Dazu gehören auch die Wächterdienste, die Sie gemeinsam mit dem damaligen Dechanten Harald Fischer initiiert haben.
Glöckner: Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober des vergangenen Jahres ging mir nicht mehr aus dem Kopf, wie es wohl den Menschen in der Kasseler Synagoge gehen mag. Wenige Tage zuvor war ich bei einer Einladung anlässlich von Jom Kippur dort gewesen. Ein sehr schöner Abend! Zwei Tage nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle haben Dechant Harald Fischer, Pfarrer Reinhard Brand und ich gemeinsam mit dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde Kassel überlegt, wie wir in diesen Tagen zusammenstehen und vielleicht auch ein Zeichen der Solidarität setzen könnten. So sind die Wächterdienste entstanden.
Schaaf: Hatten Sie mit einem solchen Interesse gerechnet?
Glöckner: Nun, ich hatte gehofft, dass sich viele Menschen beteiligen würden. Dass dieses ganze Projekt eine so breite Resonanz finden würde, hat mich überrascht und wirklich sehr gefreut.
Schaaf: Ist eine Fortsetzung der Wächterdienste geplant?
Glöckner: Dass die Wächterdienste nicht dauerhaft weiterzuführen sind, war von Anfang an klar. Also haben wir mit dem Ende des vergangenen Jahres die Wächterdienste ausgesetzt. Eine Überlegung geht dahin, bei den besonderen jüdischen Feiertagen Wächterdienste zu den Gottesdienstzeiten wahrzunehmen. Es gibt auch andere Ideen, aber die sind derzeit noch nicht spruchreif. Am Herzen liegt mir, das sehen Sie schon, ein ganz enges, herzliches Verhältnis zu der jüdischen Gemeinde vor Ort.
Schaaf: Was haben Sie sich für Ihre Arbeit im Dekanat vorgenommen?
Glöckner: Mir ist wichtig, für die Kirchengemeinden, insbesondere aber für Pfarrerinnen und Pfarrer ansprechbar zu sein und Prozesse kommunikativ zu gestalten. Dazu muss man sich gut kennen. Und letztlich befinde ich mich noch immer in dieser Phase des gegenseitigen Kennenlernens. Galt das erste Jahr vor allem der Orientierung, muss es im zweiten Jahr darum gehen, Dinge, die bereits im Gang sind, weiterzuentwickeln.
Schaaf: Woran denken Sie?
Glöckner: Ich denke hier beispielsweise an die Gottesdienstlandschaft in Kassel. Zwischen 9 und 11 Uhr findet die überwiegende Mehrzahl der Gottesdienste statt. Wegen Corona ist derzeit alles ein wenig anders. Normalerweise aber schon. Wenn Sie einen Gottesdienst am Samstagabend oder am Sonntagnachmittag suchen, finden Sie kaum ein Angebot. Dieses Problem ist nicht neu. Die Kirchenvorstände sind mit dieser Frage unterwegs, Pfarrerinnen und Pfarrer in ihren Dienstbesprechungen auch. Und doch hat sich bislang relativ wenig bewegt. Das sollte sich wirklich ändern. Unser Gottesdienstprogramm muss variabler werden, was die Zeit betrifft. Und in inhaltlicher Sicht ebenfalls. Aber hier sehe ich einige gute Entwicklungen.
Schaaf: Davon muss man aber erst einmal wissen.
Glöckner: Sie sprechen mir aus der Seele. Die gegenseitige Information ist ein Schlüsselfaktor. Nehmen wir an, ich ziehe nach Kassel und möchte schnell wissen: Wie finde ich einen Gottesdienst mit einem parallelen Kinderangebot? Oder wo gibt es ein Kirchencafé, besondere Kirchenmusik? Ist die Kirche barrierefrei? Und so weiter. Wenn ich erst die teils wirklich gut gemachten Internetauftritte der einzelnen Kirchengemeinden durchforsten muss, ist der Segen längst gesprochen und der Gottesdienst zu Ende, bevor ich das Haus verlassen habe. Mir geht es darum, Werkzeuge zu finden, mittels derer man sich leicht mithilfe von Suchmaschinen zum passgenauen Gottesdienst navigieren kann. Dazu habe ich verschiedene Gespräche aufgenommen.
Schaaf: Welche weiteren Themen liegen Ihnen am Herzen?
Glöckner: In unserer großen Stadt mit einer wirklich guten Ausstattung an Mitarbeitenden sollten wir ganz genau hinschauen, ob wir mit unseren Angeboten wirklich alle auch zahlenmäßig relevanten Zielgruppen im Blick haben. Als Kirche wissen wir uns gesandt, die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. So haben es die Väter in Barmen mit Recht formuliert. Das war im Jahr 1934. Daran hat sich nichts geändert. Und dann frage ich mich: Wo kommen beispielsweise Singles vor? In Kassel gibt es viele Singles. Da sollte es ein breites Spektrum an Angeboten geben. Das ist aber nur ein Beispiel.
Schaaf: Kirchliche Orte gibt es ja genug.
Glöckner: Das stimmt. Gebäude sind ausreichend vorhanden. Wobei das auch ein weiteres Problem beschreibt. Die Vielzahl der Gebäude in der Stadt gilt es kritisch zu reflektieren. Ich bin mir sicher, dass wir mittel- und langfristig nicht alle kirchlichen Gebäude in der Stadt dauerhaft nutzen könnten. Bei zurückgehenden Ressourcen müssen wir uns auch fragen, ob man nicht auch mit einer Reduktion des Gebäudebestands reagieren muss. Das sind schmerzhafte Prozesse, die sich aber nicht lösen lassen, wenn man sie aussitzt.
Schaaf: Denken Sie auch daran, Kirchen aufzugeben?
Glöckner: Langfristig ist das nicht auszuschließen. In Kassel scheint das geradezu grotesk. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man zerstörte Kirchen bald wiedererbaut. Das Programm der „Notkirche“ von Otto Bartning ist hier ein wichtiges Stichwort. Damals hat man gemeinsam eine tiefe Not empfunden und der Bau einer Kirche war selbstverständlicher Bestandteil der Errichtung der öffentlichen Infrastruktur, Kirchen also ebenso wichtig wie Bahnhöfe, Lebensmittelgeschäfte und Theater. Mit diesem Wissen schmerzt es natürlich noch mehr, wenn einzelne Kirchen heute nur von wenigen Menschen aufgesucht werden.
Schaaf: Nun geht es erst einmal darum, sie wieder zu öffnen. Auf die Einschränkungen während der Corona-Pandemie haben die Kirchengemeinden kreativ reagiert, um ihren Mitgliedern nahe zu sein. Neue Formate sind entstanden. Kehren wir nach Überwindung der Pandemie zur alten Tagesordnung zurück oder werden einige der neuen Impulse künftig wichtige Bausteine in der kirchlichen Arbeit sein?
Glöckner: Zunächst möchte ich sagen, dass ich den Kirchengemeinden unendlich dankbar bin für dieses Feuerwerk an Angeboten, insbesondere an den Ostertagen. Es ist ganz großartig, was hier alles entwickelt worden ist. Ich glaube, wir haben ein gutes Bild abgegeben, wie das Osterevangelium mit einer kleinstmöglichen Zahl an Begegnungen in die Stadt getragen werden konnte. Da bin ich als Dekan ehrlich gesagt auch ein bisschen stolz. Einfach zurückkehren kann man nach der hoffentlich weitestgehend beherrschbaren Pandemie nicht. Digitale Vernetzung wird ein großes Stichwort für die nächsten Jahre sein. Damit kommen wir auch einem ökologischen Anliegen entgegen. Wir sollten das, wozu uns die Corona-Krise nötigt, kritisch prüfen und das Gute behalten. Diakonie und Seelsorge werden weiterhin eine große Rolle spielen. Sie geben Halt und Mut in unsicherer Zeit. Das steht uns gut zu Gesicht.
Schaaf: Wo sehen Sie Herausforderungen darüber hinaus für Kirche in der Stadt allgemein und für die Evangelische Kirche in Kassel im Besonderen?
Glöckner: Neben dem vielen, was ich genannt habe, schmerzt es mich besonders, wenn Menschen unsere Kirche durch Austritt verlassen. Weil ich auch weiß, wie schwer es ist, sie zurückzugewinnen. Und weil ich auch so viele gute Angebote seitens der Kirchengemeinden wahrnehme, die diesen Trend dennoch nicht aufhalten können. Mich schmerzt auch ein Rückgang bei der Inanspruchnahme von Amtshandlungen. Menschen, die ihr Leben lang der Kirche verbunden waren, Kirchensteuer gezahlt haben, werden nach ihrem Tod nicht mit einem Gottesdienst aus dieser Welt verabschiedet. Damit möchte ich mich nicht abfinden. Überhaupt fordert uns als Kirche der Rückgang von Selbstverständlichkeiten in besonderer Weise heraus. Es wird also darum gehen, zu fragen, was evangelische Kirche in Kassel bedeutet. Und hier richtet sich der Blick über die Einzelgemeinde hinaus auf den Stadtkirchenkreis mit seinen fünf Kooperationsräumen. Leitsätze wurden einmal in einem Leitbildprozess entwickelt. Das ist inzwischen einige Jahre her. An Relevanz haben sie nicht verloren. Ich empfehle, diese Thesen einmal wieder zur Hand zu nehmen.
Schaaf: Gibt es konkrete Pläne für Veranstaltungen im kommenden Jahr?
Glöckner: Im Jahr 2021 ist das 100. Jubiläum des Evangelischen Gesamtverbandes Kassel zu bedenken und ein Jahr später wird es eine kirchliche Begleitausstellung zur Documenta 15 geben. Das befindet sich derzeit alles in der Planungsphase. Außerdem wird manches, was dieses Jahr wegen der Pandemie nicht stattfinden kann, nachzuholen sein.
Schaaf: Und zum Abschluss: Was macht Ihnen Mut?
Glöckner: Meine Hoffnung ist immer stärker als die Sorgen. Mut machen mir die vielen Menschen in Kassel, denen ihre Kirche und die Gemeinde lieb und wert sind und die haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden, die sich mit hoher Kompetenz und viel Herzblut engagieren, dass der Glaube in dieser Stadt eine Gestalt findet. Was ich von meiner Seite aus tun kann, das will ich gerne einbringen. Ich weiß aber auch, dass sich Prozesse nur bedingt planen lassen. Dazu gehört, und das will ich abschließend sagen, meine Wendeerfahrung. Ich bin ja im Osten Deutschlands großgeworden. Hätte 1988 irgendjemand in Meiningen, meiner Heimatstadt, erzählt, was nur zwei Jahre später alles möglich sein würde, er wäre wohl massiv ausgelacht worden. Oder hätten Sie noch am Beginn dieses Jahres gedacht, was uns in diesen Tagen von Corona so beschwert? Wohl kaum! Es kann also immer alles anders kommen als geplant. Und wir müssen aus den jeweiligen Umständen der Stadt Bestes suchen. Das war von Anfang an so. Und wir werden es finden. Da bin ich ganz hoffnungsvoll.
Schaaf: Herr Dekan Dr. Glöckner, ich danke Ihnen für das Gespräch.
(04.05.2020)